Schon wieder ein Mann

In den USA eröffnet ein rechtsextremer Waffennarr das Feuer auf Unschuldige. In Syrien sprengt ein Islamist dutzende Menschen in die Luft. In einer deutschen Neubausiedlung sticht ein Ehemann auf seine Frau und Kinder ein.

Meldungen wie diese begegnen uns täglich. Auf den ersten Blick scheinen sie nichts miteinander zu tun haben. Doch eine Gemeinsamkeit verbindet die meisten Anschläge, Amokläufe und “Familiendramen”.  Ein Tätermerkmal, an das wir uns schon so sehr gewöhnt haben, dass es uns gar nicht mehr auffällt: Fast alle Gewalttaten werden von Männern begangen.

„Nicht alle Männer sind Terroristen, aber fast alle Terroristen sind Männer“

Wo auch immer auf der Welt Menschen getötet werden: Meist liegt man richtig mit der Vermutung, dass ein Mann dahintersteckt. 88 Prozent aller polizeilich erfassten Tötungsdelikte in Deutschland werden von Männern begangen.

Von den 107 Mass-Shootings, die zwischen 1982 und November 2018 die USA erschütterten, waren gerade einmal in vier Fällen Frauen beteiligt. In Deutschland liegt das letzte Mal, dass Menschen von einer Terroristin ermordet wurden, über 40 Jahre zurück. 

„Nicht alle x sind Terroristen, aber alle Terroristen sind x“, heißt es bei anderen Tätergruppen häufig. Für keine andere gesellschaftliche Gruppe ist diese Gleichung so wahr wie für „x = Männer“.

Dass Testosteron gewalttätig macht, ist ein Mythos

Warum ist das so? Warum finden sich fast nie Terroristinnen, Rechtsextremistinnen oder Amokläuferinnen in den Schlagzeilen? Woher kommt der männliche Hang zur Gewalt? Lange Zeit waren sich Forscher:innen sicher, die Antwort auf den Ursprung der Gewalt im männlichen Körper selbst gefunden zu haben. Genauer: In seinen Hoden, der Produktionsstätte von Testosteron.

Das Sexualhormon musste lange als universelle Erklärung für alles Schlechte in der Welt herhalten: von höherer Suchtanfälligkeit über die Neigung zum Schule schwänzen bis hin zur Gewalttätigkeit.

Heutzutage fällt das Urteil von Experten wie Robin Haring wesentlich zurückhaltender aus. Der Epidemiologe hat hunderte Studien und wissenschaftliche Aufsätze zum Thema ausgewertet und 2015 mit „Die Männerlüge“ ein Buch über Testosteron veröffentlicht. Sein Urteil: Dass Testosteron gewalttätig mache, sei ebenso ein Mythos wie die meisten anderen Effekte, die wir mit Testosteron in Verbindung bringen.

„Niemand ist den Frauen gegenüber aggressiver oder herablassender als ein Mann, der seiner Männlichkeit nicht ganz sicher ist.“

Wenn es nicht die Natur ist, kann es dann die Kultur sein, die Männer zu Gewalttätern macht? Auch diese These findet schon seit langem Anhänger. „Niemand ist den Frauen gegenüber aggressiver oder herablassender als ein Mann, der seiner Männlichkeit nicht ganz sicher ist.“

Das Zitat der französischen Schriftstellerin und Feminismus-Ikone Simone de Beauvoir prangt seit Jahrzehnten auf feministischen Broschüren und Stickern von Frauenrechtsgruppen.

Mindestens ebenso lang schlägt sich die dahinterstehende Annahme in der Arbeit von Sexualtherapeutinnen und Psychologen nieder: Männer reagieren auf Kränkungen ihrer Männlichkeit demonstrativ mit noch mehr Männlichkeit. Der Ursprung der Gewalt liegt demnach nicht in einem problematischen Hormon, sondern in dem, was wir unter „Männlichkeit“ verstehen.

Gewalt ist der Versuch, empfundene Erniedrigung auszugleichen

Die These von der „Überkompensation von Männlichkeit“ erklärt beispielsweise, warum sich viele Vergewaltiger vor der Tat in ihrer Männlichkeit verletzt fühlen. Der Akt der Gewalt: Ein Versuch, die empfundene Erniedrigung durch übertrieben „männliches“ Verhalten auszugleichen.

Diese These nutzen Psycholog:innen auch, um zu erklären, warum homophobe Einstellungen überdurchschnittlich häufig bei Männern anzutreffen sind, die selbst homosexuelle Neigungen haben.

Ob sich die These von einer „Überkompensation von Männlichkeit“ auch wissenschaftlich halten lässt, haben amerikanische Forscher:innen im Jahr 2013 überprüft. In einem Aufsatz für das „American Journal of Sociology“ werteten sie mehrere Studien neu aus, in denen getestet wurde, wie Männer darauf reagieren, wenn ihre Männlichkeit infrage gestellt wird.

Ein Ergebnis: Männliche Testpersonen, denen die Studienmacher zuvor feminine Züge zuschrieben, äußerten sich im Anschluss stärker stereotyp „männlich“ als die Vergleichsgruppe, die unbeeinflusst in den Versuch ging. So äußerten sie sich zum Beispiel homophober, befürworteten Gewalt stärker oder zeigten auch größeres Interesse an der Anschaffung eines SUVs.

Sowohl Rechtsextremisten als auch Dschihadisten fühlen sich in ihrer Männlichkeit bedroht

Kann dieser Effekt auch Terroranschläge und Mass-Shootings erklären? Ja, meint Michael Kimmel. Der amerikanische Soziologe und Männerforscher ist der Frage nachgegangen, warum gerade in seiner Heimat so viele Männer zu Massenmördern werden. Seine Antwort: Überkompensierte Männlichkeit.

Wie nirgendwo sonst prallen in den USA die Vorstellung männlicher Allmacht, weißer Überlegenheit und ein übersteigerter Patriotismus auf Arbeitslosigkeit, gesellschaftliche Marginalisierung und progressive Gesellschaftsentwürfe. Das Ergebnis: Ein Millionenheer von „Angry White Men“, das immer wieder auch Attentäter hervorbringe.

Für sein 2018 erschienenes Buch „Healing from Hate“ ging Kimmel noch einen Schritt weiter. Nun wollte er wissen, ob der Effekt so groß ist, dass sich mit ihm politische Gewalttäter über ideologische und geographische Grenzen hinweg fassen lassen.

Dazu interviewte er ehemalige Rechtsextremisten und Dschihadisten. Erneut traf er dabei auf Männer, die sich durch gesellschaftliche Veränderungen ihrer Männlichkeit beraubt fühlten und darauf mit besonders „männlichem“ Verhalten reagierten: Gewalt.

„Töten ist das zentrale Mittel dieser Körper zum Erreichen des Spannungsausgleichs“

Andere Forscher kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Der amerikanische Soziologe und Religionswissenschaftler Mark Juergensmeyer hat für sein Buch „Terror im Namen Gottes“ Interviews mit Terroristen verschiedenster politischer und religiöser Ausrichtungen geführt: von Dschihadisten bis jüdischen Extremisten, von militanten christlichen Abtreibungsgegnern bis Sikh-Kämpfern.

Immer wieder stieß er dabei auf sexuell frustrierte Männer, die sich im Krieg gegen moderne Bedrohungen wie die säkulare Gesellschaft, Frauenemanzipation oder Homosexualität wähnten. Der Akt der Gewalt: Ein Symbol für die persönliche Rückgewinnung verloren gegangener Männlichkeit.

Dasselbe Prinzip findet sich auch in Klaus Theweleits 2015 erschienenen Buch „Das Lachen der Täter“. Der Kulturwissenschaftler untersuchte die Psychologie von Massenmördern: von Breivik über die Roten Khmer bis zu den Charlie Hebdo-Attentätern. Auch er fand die Antwort auf die Frage, was sie zu ihren Taten trieb, nicht primär in Religion oder politischen Ideologien. Gemein sei den Tätern die „zentrale Angst vor den körperauflösenden Fähigkeiten des bedrohenden Weiblichen.“ „Töten ist das zentrale Mittel dieser Körper zum Erreichen des Spannungsausgleichs“, schreibt Theweleit.

Die Welt ist vielfältig – auch die der Gewalt

Gilt das für alle Terroristen, Amokläufer und mordende Ehemänner? Ist die Propagierung neuer männlicher Rollenbilder der ultimative Weg zu einer friedlicheren Welt? Wahrscheinlich nicht. Es obliegt an Richter:innen und Psycholog:innen, die individuellen Motive einzelner Täter zu entschlüsseln.

Die Welt ist vielfältig, auch die der Gewalt: Es sind lasche Waffengesetze, die es ermöglichen, innerhalb von Minuten dutzenden Menschen das Leben zu nehmen. Politische Ideologien formen frustrierte Einzelgänger zu einer weltweiten chauvinistischen Bewegung. Gesamtgesellschaftliche Stimmungsmache gegen Minderheiten verschafft potenziellen Tätern die vermeintliche Legitimation.

Es ist wichtig und richtig, dass wir uns nach jedem Schusswaffen-Massaker kritisch mit der Rolle allzu liberaler Waffengesetze auseinandersetzen. Es ist richtig, dass wir nach einem Schul-Amoklauf nach möglichen Verfehlungen im Bildungssystem fragen. Und es ist richtig, dass wir nach islamistischen Anschläge über Behördenversagen und Deradikalisierungsprogramme reden.

Aber vielleicht sollten wir künftig mit derselben Ernsthaftigkeit fragen, was diese Taten mit unserer Vorstellung von „Männlichkeit“ zu tun haben, wenn wieder mal keine Attentäterin, Amokläuferin, oder Beziehungstäterin in den Schlagzeilen steht.

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2 Kommentare On Schon wieder ein Mann

  • Kein Wunder. In dieser Gesellschaft fühlt man sich als Frau männlicher als biologisch gesehene „Männer“. Der Mann hat seine Rolle komplett verloren und ist dazu gezwungen zu verweiblichen, um von der Gesellschaft nicht verstoßen zu werden. Da ist es leider sehr leicht für den Mann, in das andere Extrem zu fallen. Ich bin der Meinung, dass sogenannte „Feministinnen“, (die in Wahrheit bloß ihre Komplexe durch Hass auf Männer kompensieren), durch ihr gehässiges Verhalten einen großen Teil dazu beigetragen haben. Frauenrechte sehen jedenfalls anders aus.
    Mann und Frau sind heutzutage keine Ergänzung mehr, sondern eine Konkurrenz, die gegenseitig Hass schürt.
    Säkularismus sei Dank!

    • Oh Mann! Was für ein phänomenaler Stuss! Die Frauen, die männliche Gewalt, Herablassung usw. usw. nicht unkommentiert akzeptieren wollen, sind also quasi die wahren Mörderinnen. Peinlich. Aber übrigens wiederum charakteristisch für “männliches” Verhalten: Rumjammern und an der eigenen Gewalt der pösen Welt die Schuld geben.
      Achachach, der Weg ist noch soooo weit…

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