Was ich als Jungpionier über de Maizères Leitkultur-Appell lernte

Fast hatte ich es vergessen: Wir singen und tanzen, basteln und spielen gern. Wir achten alle arbeitenden Menschen und helfen überall tüchtig mit. Außerdem treiben wir treiben Sport und halten unsere Körper sauber und gesund.

Meine Zeit als Jungpionier dauerte nur wenige Monate, und dementsprechend blass sind meine Erinnerungen. Als ich den Leitkultur-Appell des Innenministers las, musste ich dennoch sofort an jene Zehn Gebote denken, die auf der Rückseite meines blauen Pionierausweises standen.

“Wir lieben den Frieden” hieß es damals. “Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn” schreibt Thomas de Maizière heute. Statt: “Wir halten Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion” schreibt er: “Wir sind Teil des Westens” und “die NATO schützt unsere Freiheit”. Aus: “Wir sind gute Freunde und helfen einander” wurde: “Wir haben eine Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten”. Und aus dem Basteln und Singen der Jungpioniere wurde in de Maizières Leitkultur das Bekenntnis: “Wir legen Wert auf soziale Gewohnheiten.”

Leitkultur. Schon der Begriff klingt nach Fahnenappell. Nach alten Männern, die gegen den liberalen Zeitgeist agitieren. Nach aus der Zeit gefallener Politfolklore, die außer ein paar Ewiggestrigen doch niemand mehr ernst nimmt. Doch in der DDR wie heute waren und sind diese Zehn Gebote ein Symptom einer Kultur, die für viele Menschen auch Denunziation, Verdächtigung und Ausgrenzung bedeutet.

Er meine “etwas anderes als vorschreiben” betont der Innenminister, als er die “ungeschriebenen Regeln unseres Zusammenlebens” niederschrieb. Das hieß es damals auch. Auch wer kein Jungpionier war, durfte mitmachen. Nur eben ohne blaues Halstuch. In der hintersten Reihe. Und damit den wildesten Verdächtigungen ausgeliefert: Hatte Maiks Vater nicht rübergemacht? Zwingt Ali vielleicht doch seine Frau unters Kopftuch? Wie hält’s der Christ mit dem Sozialismus? Und der Muslim mit dem Grundgesetz? Das kann man doch nicht vergleichen? Dann fragt mal Leute, die heutzutage aufgrund ihres Namens keine Wohnung finden, aufgrund ihrer Kleidung keinen Job oder aufgrund ihrer Hautfarbe keine Sicherheit.

Unsere Fahnenappelle heute kommen nur selten in Form von Gesetzen daher. Da hat de Maizière recht. Es sind die ständigen Integrations- und Islamdebatten; die permanente Suche nach Menschen, die nicht dazu gehören: falsche Flüchtlinge, Kopftuchfrauen, Deutsch-Türken.

Mit dem Pluralismusverständnis eines FDJ-Gruppenratsvorsitzenden verklären wir noch so alltägliche Banalitäten zum Wesensbestandteil abendländischer Zivilisation. Die einen trieben Sport und hielten ihren Körper sauber und gesund. Die anderen sagen ihren Namen und geben sich zur Begrüßung die Hand.

So etwas kann nur schief gehen. Wenn man die eigene Kultur auf ein Gängelband reduziert, an dem man jene über den Hof führt, die nicht dazu gehören sollen, dann bleibt nichts übrig als die alberne Karikatur einer Kultur. “Wir tragen mit Stolz unser blaues Halstuch”, hieß es früher. Dem vorbildlichen Staatsbürger von heute reicht es schon, voller Stolz keine Burka zu tragen.

[Den Text hatte ich zuerst bei Deutschlandfunk Kultur veröffentlicht.]

2 Kommentare On Was ich als Jungpionier über de Maizères Leitkultur-Appell lernte

  • Das absichtliche Ausblenden der ganzen Wahrheit ist ja nun ein ausgeleiertes Mittel. Wird aber natürlich immer wieder gern verwendet. Wem hilft das wirklich?

    Habe ich mich doch richtig erinnert:
    “Wir Jungpioniere halten Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion und aller Länder.” Mit den Kindern ALLER Länder. Fällt Ihnen was auf? Also mir schon. Üble Sache, die Sie hier betreiben. Oder ist das wieder so eine schwer ironische Angelegenheit, die ich in meiner Unwissenheit nicht vestehe? Wahrscheinlich wohl schon…

  • Tja Herr Köhler, falls Sie es denn sind, der diesen, nunja, Text geschrieben haben sollte. Lohnt ja eigentlich nicht nach der Löschung und der erkennbaren Intention Ihres Textes noch was zu sagen. So läuft das eben heute im Jahr 2018.
    Muss aber doch noch sein:

    Die Heimat hat sich schön gemacht

    Worte: Manfred Streubel
    Weise: Gert Natschinski

    Die Heimat hat sich schön gemacht und Tau blitzt ihr im Haar. Die Wellen spiegeln ihre Pracht wie frohe Augen klar. Die Wiese blüht, die Tanne rauscht, sie tun geheimnisvoll. Frisch das Geheimnis abgelauscht, das und beglücken soll.

    Der Wind streift auch durch Wald und Feld, er raunt und Grüße zu. Mit Fisch und Dachs und Vogelwelt stehn wir auf du und du. Der Heimat Pflanzen und Getier behütet unsre Hand, und reichlich ernten werden wir, wo heut noch Sumpf und Sand.

    Wir brechen in das Dunkel ein, verfolgen Ruf und Spur. Und werden wir erst wissend sein, fügt sich uns die Natur. Die Blume öffnet sich dem Licht, der Zukunft unser Herz. Die Heimat hebt ihr Angesicht und lächelt sonnenwärts.

    Ganz, ganz schlimme Indoktrination. Keine Frage.

    Wie sieht eigentlich heute die Indoktrination der Kinder und Jugendlichen so aus? Die Handy-facebook-twitter-whatsapp…-Leine, an die die Jugendlichen heute angehängt wurden, würde ich ja mal im Auge behalten

    Noch viel Spaß beim Löschen. Und alles Gute.

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