Die arabische Geschichte von Notre-Dame

Ein Jahr ist es nun schon her, als die Notre-Dame am 15. April 2019 in Flammen aufging. Und auch wenn die Rekonstruktionsarbeiten nach wie vor nur schleppend vorangehen, scheint die symbolische Bedeutung der Kathedrale Tag für Tag zuzunehmen. Symbol der Geschichte Frankreichs, Symbol für Solidarität und Spendenbereitschaft, Symbol der Widerstandsfähigkeit des französisches Volkes oder gleich Symbol für die abendländische Zivilisation als Ganzes: Der Pariser Sakralbau musste im vergangenen Jahr für Vieles herhalten.

Nur eine Geschichte bleibt bis heute weitgehend unerzählt: Die der Notre-Dame als Symbol jahrhundertelangen interkulturellen Austausches zwischen Europa und der arabisch-islamischen Welt. Das ist die arabische Geschichte von Notre-Dame.

Die Urgroßmutter “unserer lieben Frau” steht in Syrien

Die Entstehungsgeschichte der Notre-Dame beginnt offiziell im Jahr 1163 und überdauert rund 200 Jahre. So lange mussten die Pariser von der Grundsteinlegung durch Bischof Maurice de Sully bis zur Fertigstellung ihrer „lieben Frau“ warten. Wesentlich älter sind allerdings ihre ideellen Wurzeln: Sie reichen zurück bis ins Syrien des 5. Jahrhunderts.

In einer Region, die Archäologen heute die „Toten Städte“ nennen, vollzog sich die Geburtsstunde des christlichen Kathedralenbaus. Im Nordwesten des Landes bauten frühbyzantinische Christen die ersten großen Basilika. Rund 30 Kilometer westlich von Aleppo entstand eine der prächtigsten: die Klosterkirche Deir Turmanin. Von ihr ist heute nichts mehr übrig, doch auf archäologischen Zeichnungen dürfte Notre-Dame-Besuchern eine Sache sofort ins Auge springen: die Fasse mit zwei Türmen.

30 Kilometer weiter lässt sich der Ursprung romanischen und gotischen Doppelfassadenbaus auch heute noch besichtigen. Auf einem Hügel nördlich der syrischen Stadt Idlib stehen die Ruinen der ebenfalls im 5. Jahrhundert gebauten „Qalb Loze“.

Dass sich der Stil nicht nur rasch in der Region, sondern auch in Europa verbreitete, ist der günstigen Lage der Kirchen zu verdanken. Auf einer nahe gelegenen alten römischen Handelsstraße zwischen Aleppo und Antiochia (heute Antakia) verkehrten regelmäßig Pilger und Händler.

Die britische Journalistin Diana Darke, die mehrere Bücher über die Kulturgeschichte Syriens geschrieben hat, vermutet in einem sehr lesenswerten Blogbeitrag zur Geschichte der Notre-Dame, dass es Kreuzfahrer waren, die die Idee der Doppelturmfassade mit nach Westeuropa brachten.

Andere Autoren verweisen hingegen darauf, dass sich ihr Einfluss schon im 6. und 7. Jahrhundert Europa nachweisen lässt. Sicher ist: Spätestens ab dem 11. Jahrhundert prägten die Doppeltürme romanische Kirchen überall in Westeuropa – wie zum Beispiel die Klosterkirche Saint-Étienne oder in Deutschland die Basilika St. Kastor in Koblenz. Diese wiederum beeinflussten die Erbauer gotischer Bauten wie der Notre-Dame.

Rosen aus der palästinensischen Wüste

Von den beiden großen Türmen der Westfassade von Notre-Dame ist es nicht weit bis zum nächsten Element mit arabischen Wurzeln: den Rosenfenstern. Die riesigen mit Buntglas ausgeschmückten Fenster gehören zu den beeindruckendsten Elementen der Kathedrale. Nicht ohne Grund veröffentlichten viele Medien nach dem Brand eigens Artikel, nur um darauf hinzuweisen, dass die Fenster nicht beschädigt wurden.

Der Urahn romanischer Radfenster steht nördlich der palästinensischen Stadt Jericho. Foto: Michael Darter/ CC3.0

Glück im Unglück hatte auch ihr historischer Urahn. Im 8. Jahrhundert ließen umayyadische Herrscher nahe der Stadt Jericho in Palästina eine riesige Palastanlage errichten. Neben Moscheen, großzügigen Bädern und aufwändigen Stuck und Mosaikarbeiten beherbergte der „Palast des Hischam“ auch ein rundes Fenster, das offenbar einem Rad nachempfunden war. Der Großteil der Anlage fiel einem Erdbeben zum Opfer, doch in den 1930ern entdeckten palästinensische Archäologen ihre Überbleibsel. Dank ihnen können Touristen heute das erste bekannte Radfenster der Welt bewundern.

Seine Nachkommen schmücken heute Kirchen in ganz Europa. Romanische Radfenster gibt es zum Beispiel am Basler Münster oder an der San Zeno Maggiore im italienischen Verona. Gotische Kirchenbauer entwickelten sie zu jenen Fensterrosen weiter, wie man sie an der Nord- und Westseite von Notre-Dame sehen kann.

Wer setzte die Spitze auf den Bogen?

Auch das charakteristischste Merkmal gotischer Architektur lässt sich in die arabische und persische Welt zurückverfolgen: der Spitzbogen. Historiker sind sich uneins, wo und wann erstmals jemand auf die Idee kam, einen runden Bogen spitz zulaufen zu lassen: Im sassanidischen Palast Taq-e Kisra im Norden des heutigen Iraks? In der byzantinische Kirche Qasr ibn Wardan in Syrien? Im ummayyadischen Wüstenschloss Qusair ʿAmra im heutigen Jordanien? Oder hat doch der amerikanische Islamwissenschaftler Tom Verde Recht, der in seinem Aufsatz „The Point of the Arch“ vermutet, eine abbasidische Zisterne im heutigen Israel sei der Ursprung der Zuspitzung?

Sicher ist: Als der Spitzbogen im 11. Jahrhundert in Europa auftauchte, hatte er bereits eine lange Reise durch die arabische und persische Welt hinter sich. Vor allem die Kairoer Ibn Tulun-Moschee soll westliche Bauherren beeinflusst haben. Erbauen ließ die Moschee, die bis heute die größte des Landes ist, der gleichnamige Abassiden-Stadthalter im 9. Jahrhundert. Sein Problem damals: Um das riesige Dach zu stützen, hätte es hunderte Säulen im Innenraum benötigt. Die Lösung: Spitzbögen, die ein Vielfaches ihrer runden Vorgänger tragen können.

Es war derselbe Grund, der die Bauherren von Notre-Dame und hunderter anderer Sakralbauten ab dem 11. Jahrhundert in Europa ihre Bögen spitz zulaufen ließen. Gepaart mit der neuen Erfindung des gotischen Strebewerkes verhalfen die Spitzbögen Notre-Dame zu einer bis dahin für unmöglich gehaltene Gewölbehöhe von über 30 Metern. Das europäische Kulturerbe Notre-Dame hätte es auch deshalb ohne Vordenker in der arabisch-islamischen Welt nie gegeben.

2 Kommentare On Die arabische Geschichte von Notre-Dame

  • Danke für ein weiteres Beispiel dafür, wie lächerlich dieses Gerede von „unserer jüdisch christlichen Tradition/Kultur“ ist. Die Menschen haben immer Ideen und Kultur weitergegeben und sich das rausgepickt was ihnen gefallen hat.
    Übrigens finde ich dieses Gerede rechter Spießbürger auch deswegen lächerlich, weil es einerseits den islamischen Einfluss negiert und sie andererseits als moralisches Feigenblatt die Juden mit in ihr Boot ziehen. Jahrhundertelang war Antisemitismus Staatsräson. Nachdem wir es damit aber übertreiben haben und jetzt wo es gegen die Muslime geht, da gehören sie auch mal dazu.
    Da können sich die Muslime ja schon mal freuen, wenn wir erst einmal Millionen von ihnen getötet haben und der Mongole wieder am Horizont auftaucht, dann werden Ali und Aische auch endlich dazu gehören.

  • Markus Ehrenschildt

    die im Artikel erwähnten Syrischen Bauten waren jedenfalls christiche Kirchen, hatten also nichts mit dem Islam zu tun. Ich habe nichts dagegen, wenn man die schöneren Seiten der Islamische Kultur und deren Auswirkungen auf andere Zivilisationen hervorhebt. Was mir aber auf den Keks geht, ist dieser ständiger Versuch uns die Links-Liberale Mär einzudreschen, dass die westliche Kultur zum größten Teil aus dem Nahost stammt, und das die Europäer immer nur “geplündert” und “gestohlen” haben, so wie es die liebe Frau Darke in ihrem Guardian-Artikel wortwörtlich formuliert. Übrigens verbreitet diese schillernde Koryphäe auch genügend Stuß, z.B. wenn sie behauptet, dass der Markusdom in Venedig eine Kopie vom Jerusalemer Felsendom sein. Bullshit — die Vorlage für den Markusdom — sowie auch für den Felsendom — war die christliche Kirche von Hagia Sophia! Man will den Menschen eben die zunehmende Islamisierung Europas auf Biegen und Brechen schmackhaft machen.

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