Hamas und die menschlichen Schutzschilde: Das tödlichste Märchen des Nahen Ostens

Versteckt sich die Hamas feige hinter Zivilisten? Kaum eine israelische Propaganda-Erzählung wird so oft von deutschen Medien verbreitet. Berichterstattung über den gut dokumentieren Missbrauch palästinensischer Zivilisten durch Israels Armee gibt es hingegen kaum.

“Das israelische Militär ist besonders bemüht, zivile Opfer zu vermeiden,” erklärt der Mann im professionell ausgeleuchteten Studio in ruhigen und klaren Worten in Richtung Kamera. Zu den Bildern zerstörter Häuser und in Leichentücher eingewickelter Körper erfährt die Instagram-Community den vermeintlich wahren Grund für die hohe Zahl ziviler Opfer in Gaza sei: “Die Hamas nutzt die Zivilbevölkerung seit jeher als Schutzschild. Sie geht also hinter den Menschen in Deckung.” Mehr noch: “Ganz gezielt inszeniert die Hamas die traurigen Verluste, um daraus eine psychologische Waffe zu machen” und “Israel eine Rolle als Sündenbock zuzuschieben, Israel als besonders gewalttätig darzustellen.”

Beiträge wie diesen, in denen Israel von aller Verantwortung freigesprochen und der Hamas die alleinige Schuld für Tod und Zerstörung in Gaza gegeben wird, haben die PR-Abteilungen von Israels Militär und Regierung seit dem 7. Oktober 2023 zu hunderten produziert. Das Problem in diesem Fall: Die Worte stammen nicht von einem Sprecher der IDF, sondern von einem Journalisten. Veröffentlicht wurde das Video nicht im Telegram-Kanal der IDF, sondern als redaktioneller Beitrag auf dem Instagram-Account von Deutschlands größter Wochenzeitung DIE ZEIT.

Damit ist DIE ZEIT nicht allein. Die Behauptung, die Hamas missbrauche die Zivilbevölkerung als menschliches Schutzschild, verschanze sich gezielt in Schulen, Krankenhäusern und anderen zivilen Einrichtungen, um israelischen Angriffen zu entgehen, gehört zu den beliebtesten und (um das Ergebnis dieses Textes vorwegzunehmen) unbelegtesten Erzählung dieses Krieges. Und sie gehört zu den folgenreichsten.

Immer wenn Israel ein neues Massaker rechtfertigen muss, taucht die Erzählung von den “menschlichen Schutzschilden” auf

Mit keinem anderen Narrativ werden so häufig Kriegsverbrechen und Massaker gerechtfertigt, wie mit der Behauptung, die Hamas lasse Israels Armee schlichtweg keine andere Wahl als Zivilisten zu töten. Auch in deutschen Medien taucht die Erzählung regelmäßig auf. Meist ohne jeden Beleg, dafür immer dann, wenn Israel mal wieder die Bombardierung eines Krankenhauses, das Massaker in einem Flüchtlingslager oder das Niederbrennen einer Schule rechtfertigen muss. Nicht nur in Form von Zitaten israelischer Regierungsvertreter, sondern als vermeintliche Tatsache, niedergeschrieben von Autorinnen und Redakteuren, die eigentlich nicht dem Image der IDF, sondern der gewissenhaften und faktentreuen Information der Öffentlichkeit verpflichtet sind.

Süddeutsche Zeitung am 10.10.2023

“Die Hamas nutzt bei ihren Stellungen im Gazastreifen immer wieder Zivilisten als Schutzschilde”, heißt es beispielsweise bei der Tagesschau. „Die Hamas nutzt Zivilisten als menschliche Schutzschilde und schlägt aus dem gleichen Grund ihre Quartiere oft direkt in Krankenhäusern und Schulen”, berichtet Der Spiegel. In der ARD wundert sich Talkshow-Host Anne Will: „Was kann man denn bei einer derart zynischen Organisation wie der Hamas ausrichten, wenn sie es genauso macht, wie wir alle wissen, dass sie Palästinenser als Schutzschild nimmt.“ Die taz erklärt: „Es ist lange bekannt, dass sich die Hamas-Kämpfer in Schulen, Krankenhäusern und anderen zivilen Gebäuden verschanzen und unschuldige Zivilisten, selbst Kinder, als Schutzschilde missbrauchen.“

Auf YouTube lernen Fans des öffentlich-rechtlichen Kanals MrWissen2Go: „Tatsächlich machen es die Terroristen von der Hamas auch besonders schwer, indem sie Zivilisten als Geisel nehmen. Man könnte davon sprechen, die ganze Bevölkerung des Gazastreifens ist in Geiselhaft der Hamas.“ Und auch der Schwarzwälder Bote erklärt seinen Lesern, Israel kämpfe „gegen einen Gegner, der aus seinen 16 Jahre lang in und unter Wohngebieten und Krankenhäusern ausgebauten Stellungen und Hinterhalten feuert, der internationale Hilfe für die geschundene Bevölkerung rücksichtslos für seine Truppen abzweigt, der diese Bevölkerung als lebende Schutzschilde missbraucht.“

Als handle es sich um eine unumstößliche Gewissheit, die keine Belege braucht

Man könnte diese Auflistung ewig fortsetzen. Die Erzählung von den menschlichen Hamas-Schutzschilden ist fester Bestandteil der westlichen Nahost-Berichterstattung. Unter den hunderten Print- und Online-Medien in Deutschland, die regelmäßig über die Gewalt im Nahen Osten berichten, ist es schwer, überhaupt eines zu finden, das die Behauptung nicht schon mal verbreitet hat. Im Rahmen dieser Untersuchung ist das nicht gelungen. In den großen deutschen Nachrichtenmedien findet man sie oft mehrmals pro Woche. Was man in den Beiträgen hingegen so gut wie nie findet: Belege.

Stattdessen wird die Geschichte von den “menschlichen Schutzschilden” der Hamas in vielen Medien präsentiert, als handle es sich um eine unumstößliche Gewissheit, die so selbstverständlich ist, dass es keine weiteren Belege braucht. Eine Behauptung, mit der regelmäßig Kriegsverbrechen rechtfertigt werden, wird ohne jegliche Angaben von Fakten und Quellen zur Tatsache erklärt. Das ist im deutschen Nahost-Journalismus nicht nur möglich, es ist die absolute Regel.

Die Geschichte beginnt nicht unter Schulen und Krankenhäusern, sondern in israelischen PR-Abteilungen

Was ist also dran am Vorwurf, Kämpfer der Hamas würden hinter Zivilisten in Deckung gehen? Wer nach dem Ursprung dieser Erzählung sucht, der stößt nicht auf Berichte über “Hamas-Terroristen”, die sich unter Schulen und Krankenhäusern verstecken. Stattdessen stößt man auf Statements israelischer Politiker und Militärs.

Spätestens seit der Zweiten Intifada ist der Schutzschild-Vorwurf fester Bestandteil offizieller israelischer PR-Arbeit. Der Vorwurf schon damals: Bewaffnete Kämpfer Gruppen würden sich bewusst in ziviler Umgebung aufhalten, um israelischen Angriffen zu entgehen. Insbesondere mit den immer zerstörerischer werdenden Angriffen Israels auf den Gazastreifen ab dem Jahr 2008 und dem zunehmenden öffentlichen Rechtfertigungsdruck wird der Vorwurf vom „menschlichen Schutzschild“ zu einem zentralen Element der öffentlichen Rhetorik von Israels Regierung und Armee. 

„Die Hamas hat ihre Raketen absichtlich dort platziert, wo palästinensische Kinder leben und spielen“, erklärte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im September 2014 vor der UN-Generalversammlung. In den Wochen zuvor hatte Israels Armee den mit 2101 palästineischen Toten bis dahin tödlichsten Krieg in Gaza geführt und dabei großflächig zivile Infrastruktur zerstört. Begleitet wurden die Angriffe von einer umfangreichen PR-Kampagne. Auf ihren Social Media-Accounts zeigte Israels Armee Infografiken mit palästinensischen Wohnhäusern, deren Keller vollgestopft sind mit Raketen. 

Die Kampagne hatte Erfolg. Das Bild einer Terrororganisation, die sich feige hinter der eigenen Bevölkerung versteckt, ist seither aus der westlichen Berichterstattung nicht mehr wegzudenken. Belege für diese Behauptungen gab es allerdings schon damals keine.

Die vergebliche Suche nach dem menschlichen Hamas-Schutzschild

Human Rights Watch fand in den dokumentierten Fällen keine Hinweise darauf, dass die zivilen Opfer von palästinensischen Kämpfern als menschliche Schutzschilde benutzt wurden oder im Kreuzfeuer zwischen kämpfenden Parteien starben. In allen Fällen schienen die israelischen Streitkräfte die Lage unter Kontrolle zu haben und palästinensische Kämpfer hatten das jeweilige Gebiet bereits verlassen.

Das schrieb die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in ihrem Bericht zu Israels Militäroperation “Cast Lead” im Jahr 2008/2009. Auch Amnesty International kam damals zu dem Ergebnis:

Entgegen wiederholten Behauptungen israelischer Offizieller über den Einsatz von ‚menschlichen Schutzschilden‘ fand Amnesty International keine Hinweise darauf, dass Hamas oder andere palästinensische Kämpfer Zivilisten gezielt dazu bewegten, militärische Ziele abzuschirmen […], ebenso wenig, dass sie Bewohner zwangen, in der Nähe solcher Gebäude zu bleiben oder diese nicht zu verlassen.

Als Israels Armee fünfeinhalb Jahre später infolge seiner Operation “Protective Edge” im Jahr 2014 wieder die tausendfache Tötung von Zivilisten und großflächige Zerstörung ziviler Infrastruktur rechtfertigen musste, stellte Amnesty International erneut fest:

Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt keine Beweise dafür, dass palästinensische Zivilisten von der Hamas oder anderen bewaffneten Gruppen während der aktuellen Kampfhandlungen absichtlich eingesetzt wurden, um bestimmte Orte, militärisches Personal oder Ausrüstung vor israelischen Angriffen zu ‚schützen‘.

Auch in den umfangreichen Berichten der Vereinten Nationen zu den Kriegen der vergangenen Jahre findet sich kaum etwas, das sich auch nur entfernt als Beleg für die These vom „menschlichen Schutzschild“ durch die Hamas werten lässt. Ein Vorfall, der sich noch am ehesten in diesem Zusammenhang anführen lässt, ist ein Waffenfund an einer UNRWA-Schule im Juli 2014.

Im Bericht der damaligen UN-Untersuchungskommission heißt es, ein Sicherheitsmann habe in dem Gebäude südlich von Gaza-Stadt einen herrenlosen Mörser mitsamt Munition entdeckt. Die Waffe sei nach dem Fund umgehend entfernt und die relevanten palästinensischen und israelischen Behörden informiert worden. Wer genau den Mörser dort deponiert hatte, konnten die UN-Ermittler nicht feststellen. Außerdem sei die Schule nicht in Betrieb und das Gebäude leer gewesen. Abgesehen vom Wachpersonal befanden sich also keine Menschen vor Ort, die man überhaupt hätte als menschliche Schutzschilde missbrauchen können. 

BBC-Reporter Jeremy Bowen im Jahr 2014 nach seiner Rückkehr aus Gaza

Auch Journalisten und Wissenschaftler fanden keine menschlischen Schutzschilde

Auch Reporter internationaler Medien etwa von der New York Times, The Guardian, The Independent und der BBC berichteten in vergangenen Kriegen übereinstimmend, keine Hinweise auf den Missbrauch von Zivilisten durch die Hamas gefunden zu haben.

Bettina Marx ist eine der besten deutschsprachigen Gaza-Kennerinnen. Zwischen 2003 und 2015 berichtete die Journalistin für ARD, Deutsche Welle und Deutschlandfunk aus Israel und Palästina. 2009 veröffentlichte sie das Buch “Gaza: Berichte aus einem Land ohne Hoffnung.” Von 2015 bis 2021 leitete sie das örtliche Büro der Heinrich-Böll-Stiftung und war dafür immer wieder im Gazastreifen unterwegs.

Nach dem Vorwurf gefragt, die Hamas nutze Zivilisten als Schutzschilde, sagt sie: „Ich habe bei meinen Gesprächen mit Palästinensern vor Ort noch nie von solchen Vorfällen gehört.“ Auch bei ihren zahlreichen Besuchen in Krankenhäusern Gazas, habe sie sich immer völlig frei bewegen können: „Nie hat im Al-Shifa-Krankenhaus, das ich oft besucht habe, jemand zu mir gesagt: Da darfst Du nicht hin. Diese Etage, diese Tür, dieser Gang sind nicht zugänglich. Wenn es dort wirklich eine Hamas-Kommandozentrale gäbe, würden sie das Krankenhaus nicht so ungeschützt lassen, dass wildfremde Menschen da unbeaufsichtigt herumlaufen können.“

Zum selben Ergebnis kommen  auch Neve Gordon und Nicola Perugini. In ihrem 2020 veröffentlichten Buch “Human Shields: A History of People in the Line of Fire“ geben die beiden Politikwissenschaftler einen Überblick über den Missbrauch von Zivilisten zu militärischen Zwecken: vom amerikanischen Bürgerkrieg über den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis zum Vietnamkrieg und den zahlreichen Kriegen in Nahost. Für Israels Vorwurf, die Hamas missbrauchen Zivilisten zu militärischen Zwecken, fanden auch Gordon und Perugini keine Belege. Stattdessen dokumentieren sie in ihrem Buch umfassend, wie Israel den Vorwurf des „menschlichen Schutzschilds“ systematisch als propagandistisches Mittel nutzt, um eigene Kriegsverbrechen zu rechtfertigen und völkerrechtliche Verantwortung abzuwehren.

Auch nach dem 7. Oktober bleiben die Belege aus

An diesem Muster hat sich auch nach dem 7. Oktober 2023 nichts geändert. Hunderte Male beschuldigten israelische Militärs und Politiker in den vergangenen zwei Jahren die Hamas, “Kommandozentralen” oder andere „terroristische Infrastruktur” unter zivilen Gebäuden platziert zu haben. In keinem Fall konnten unabhängige Untersuchungen, etwa durch die Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen oder investigative Reporter, die Anschuldigungen bestätigen. Gegenteil: Immer wieder dokumentierten Journalisten und Forscher, dass sich israelische Angriffe ganz bewusst gegen Zivilisten richteten und überführten israelische Militärs- und Politiker so der Lüge. 

Das in Washington ansässige Middle East Institute hat sich im Mai 2024 mit der Frage des Einsatzes menschlicher Schutzschilde durch die Hamas seit dem 7. Oktober befasst. Das Ergebnis ist dasselbe wie in früheren Untersuchungen:

Trotz der Allgegenwart dieses Vorwurfs halten die israelischen Behauptungen, Hamas würde systematisch und gezielt palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde einsetzen, einer näheren Prüfung nicht stand.

Zwar habe es Fälle gegeben, “in denen sich Hamas-Kämpfer oder Waffen in oder nahe zivilen Gebäuden befanden”, schreiben die Autoren. “Ob dies jedoch absichtlich geschah, um israelische Angriffe zu erschweren oder zu verhindern, ist unklar. Klar ist hingegen: Der Gazastreifen gehört zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt – etwa 2,3 Millionen Menschen leben auf weniger als 140 Quadratmeilen. Es gibt dort kaum Orte, die nicht in unmittelbarer Nähe zu Zivilisten oder kritischer Infrastruktur liegen.“  

Auch palästinensische Ärzte, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sowie Reporter vor Ort haben den Schutzschild-Vorwurf seit dem 7. Oktober unzählige Male zurückgewiesen. Einer von ihnen ist der palästinensische Journalist Muhammad Shehada:

Ich habe zehn israelische Militäroperationen in Gaza miterlebt, darunter drei Kriege und zwei großangelegte Bodenoffensiven. Und jedes Mal, wenn die israelische Armee einen meiner Angehörigen tötete, lautete die Rechtfertigung: ‚menschliche Schutzschilde‘. […] In meinem ganzen Leben habe ich nicht ein einziges Mal erlebt oder davon gehört, dass Hamas oder irgendeine andere militante Gruppe in Gaza Zivilisten gezwungen hätte, in oder um von Kämpfern genutzte Gebäude zu bleiben – oder ihre Bewegungen so gelenkt hätte, dass sie militärische Operationen vor Angriffen abzuschirmen.

Vage Mutmaßungen statt handfeste Beweise

Selbst in Medienberichten, in denen Hamas der Missbrauch der Zivilbevölkerung zur Last gelegt wird, finden sich kaum Hinweise auf konkrete Ereignisse, anhand derer sich der Schutzschild-Vorwurf belegen lassen könnte – von den unkritisch übernommenen und regelmäßig widerlegen Propaganda-Behauptungen der Israelischen Armee einmal abgesehen. Die wenigen unabhängigen Hinweise, die überhaupt als möglicher Beleg zur Diskussion stehen, sind oftmals schon so weit hergeholt, dass sie sich für jeden Leser mit etwas gesundem Menschenverstand leicht selbst widerlegen lassen.

Einer der populärsten „Belege“ für den Missbrauch ziviler Infrastruktur durch die Hamas, der in Medienberichten seit dem 7. Oktober 2023 vergleichsweise häufig zitiert wird, ist ein Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2015. In der Untersuchung zu Verhaftungen und Folter durch die Hamas während des Krieges von 2014 heißt es:

Hamas-Kräfte nutzten die verlassenen Bereiche des al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt – einschließlich des Ambulanztrakts – um Verdächtige festzuhalten, zu verhören, zu foltern und anderweitig zu misshandeln, während andere Teile des Krankenhauses weiterhin als medizinische Einrichtung funktionierten.

Verantwortungsvoll arbeitende Journalisten müssten hier eigentlich von allein schon ins Grübeln kommen: Kann der Umstand, dass im Jahr 2014 in einigen ungenutzten Räumen eines Krankenhaus verhört und gefoltert wurde, wirklich als Rechtfertigung dafür dienen, dass dieses Krankenhaus zehn Jahre später zerstört und hunderte seiner Patienten und Ärzte getötet werden? 

Aber selbst jene Journalisten, die nicht selbst in der Lage waren, die Absurdität dieses “Beweises” eigenständig zu erkennen, hätten nur bei den Autoren des Berichts selbst nachfragen müssen. Schon im November 2023 wies Amnesty International die “irreführende” Interpretation seines Berichts zurück und stellt klar: Der Bericht beziehe sich „ausschließlich auf den Krieg von 2014 und ganz konkret auf verlassene Bereiche des Krankenhausgeländes, darunter eine stillgelegte Ambulanz“. Die Menschenrechtler erklärten weiter: „Amnesty International hat keinerlei Hinweise darauf, dass das al-Shifa-Krankenhaus im aktuellen Konflikt 2023 zu anderen Zwecken als zur Behandlung von Patienten genutzt wurde“.

Das Völkerrecht gilt auch für menschliche Schutzschilde

Alle verfügbaren Informationen deuten in dieselbe Richtung: Die Hamas missbraucht Zivilisten nicht als menschliche Schutzschilde. Die Erzählung von Terroristen, die feige hinter der Zivilbevölkerung in Deckung gehen, entstammt dem israelischen Propaganda-Apparat und nicht den Realitäten in Gaza. Aber selbst wenn die Hamas täte, was ihr vorgeworfen wird, gäbe das Israel einen Freibrief zur Tötung von Zivilisten? Nein.

Die an einem Konflikt beteiligten Parteien dürfen die Bewegungen der Zivilbevölkerung oder einzelner Zivilisten nicht in der Absicht lenken, militärische Ziele vor Angriffen abzuschirmen oder militärische Operationen zu decken.

So steht es in Artikel 51, Absatz 7 des Zusatzprotokolls der Genfer Konvention. An selber Stelle findet sich auch die Bestimmung, dass selbst im Fall eines solchen Verstoßes „die Verpflichtungen der Konfliktparteien gegenüber der Zivilbevölkerung und den Zivilpersonen in vollem Umfang bestehen bleiben.“ Darüber hinaus heißt es:

Die Anwesenheit von Personen innerhalb der Zivilbevölkerung, die nicht unter die Definition von Zivilisten fallen, entzieht der Bevölkerung nicht ihren zivilen Charakter.

Mit anderen Worten: Auch wenn sich bewaffnete Kämpfer an zivilen Orten aufhalten, wird der Ort dadurch nicht automatisch zu einem legitimen militärischen Ziel. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) kommentiert dazu:

Unter Kriegsbedingungen ist es unvermeidlich, dass sich Personen, die zur Kategorie der Kombattanten gehören, mit der Zivilbevölkerung vermischen – zum Beispiel Soldaten, die im Heimaturlaub ihre Familien besuchen. Solange es sich dabei nicht um reguläre Einheiten in größerer Zahl handelt, ändert dies in keiner Weise den zivilen Charakter der Bevölkerung.

Die hohe Zahl ziviler Tote ist Ausdruck der Menschenverachtung der IDF, nicht der Hamas

Nicht zuletzt die Art der israelischen Kriegsführung zeigt, wie wenig Sinn der Vorwurf vom „menschlichen Schutzschild“ ergibt. Enthüllungen investigativer Reporter und zahlreiche Untersuchungen internationaler Organisationen sowie Berichte von NGOs haben immer wieder gezeigt: Israel greift Hamas-Mitglieder bewusst inmitten ziviler Umgebungen, etwa in ihre Privatwohnungen an – und nimmt dabei den Tod von teils hunderten Zivilisten billigend in Kauf. Darüber hinaus zerstört das israelische Militär gezielt und systematisch zivile Infrastruktur und damit die Lebensgrundlage der Bevölkerung. Israelische Politiker und Militärs geben seit dem 7. Oktober immer wieder freimütig zu, dass genau dies auch so beabsichtigt ist. Welchen Vorteil also sollte die Taktik des “menschlichen Schutzschildes” der Hamas gegenüber einem Gegner bringen, der ohnehin keine Rücksicht auf zivile Opfer nimmt?

Der Grund, warum ein Großteil des Gazastreifens in Trümmer liegt, ist nicht, dass die Hamas jedes Haus zu einer Kommandozentrale umfunktioniert hat und Israels Armee nichts anderes übrig lässt als täglich Wohngebäude, Flüchtlingslager, Schulen und Krankenhäuser zu bombardieren. Der Grund ist, dass Israel genau diese Zerstörung will. Die zehn-, wahrscheinlich hunderttausenden Toten im Gazastreifen sind nicht Folge der Menschenverachtung der Hamas, die feige hinter Zivilisten in Deckung geht, sie sind  Ausdruck der Menschenverachtung von Israels Armee und Regierung, die die Zivilbevölkerung Gazas ganz bewusst ins Visier nimmt. 

Hinter Gazas Zivilisten gehen israelische Soldaten in Deckung

Diese Menschenverachtung zeigt sich auch daran, wer im Nahen Osten wirklich hinter Zivilisten in Deckung geht. Das besonders Zynische an der Geschichte vom menschlichen Schutzschild: Sie beruht auf realen Begebenheiten – nur sind Palästinenser dabei nicht die Täter, sondern die Opfer. 

In ihrem Buch “Human Shields: A History of People in the Line of Fire” berichten Neve Gordon und Nicola Perugini von der langen Geschichte des Missbrauchs palästinensischer Zivilisten durch fremde Armeen. Bereits britische Truppen in Palästina nutzten palästinensische Zivilisten als Schutz vor Angriffen – etwa indem sie diese auf einem Wagen befestigten, der vor einem Zug vorgeschoben wurde.

Missbrauch palästinensischer Zivilisten als menschliches Schutzschild durch britische Soldaten im Jahr 1936. Quelle

Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem dokumentiert den Einsatz menschlicher Schutzschilde durch das israelische Militär seit vielen Jahren. In einem Bericht aus dem Jahr 2017 heißt es:

Seit Beginn der Besatzung im Jahr 1967 haben israelische Sicherheitskräfte wiederholt Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen als menschliche Schutzschilde eingesetzt, indem sie sie zwangen, militärische Aufgaben auszuführen, die ihr Leben gefährdeten.

Auch internationale Organisationen haben den Missbrauch palästinensischer Zivilisten durch die israelische Armee mehrfach dokumentiert. Im Jahr 2013 stellte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes fest, dass Israel zwischen 2010 und 2013 „palästinensische Kinder kontinuierlich als menschliche Schutzschilde einsetzte“. Zu ähnlichen Ergebnissen kam der UN-Sonderberichterstatter für Terrorismusbekämpfung. 

Untersuchungen von Amnesty International und Human Rights Watch bestätigen ebenfalls, dass der Missbrauch palästinensischer Zivilisten durch die israelischen Streitkräfte kein Einzelfall ist, sondern systematisch erfolgt – dokumentiert durch zahlreiche Videoaufnahmen, Augenzeugenberichte und Aussagen von beteiligten Soldaten und Betroffenen. Selbst die israelische Armee bestreitet den Einsatz menschlicher Schutzschilde nicht. In einem Gerichtsverfahren im Jahr 2017 verteidigte sie sogar ihr „Recht“, palästinensische Zivilisten für militärische Zwecke einzusetzen.

Daily Mail vom 23. April 2024

„Eine Unter-Armee palästinensischer Sklaven“

An dieser Praxis hat die israelische Armee auch nach dem 7. Oktober 2023 nichts geändert. Von deutschen Medien weitgehend unbeachtet, dokumentierten in den letzten zwei Jahren Menschenrechtsorganisationen und investigative Reporterinnen den systematischen und umfassenden Missbrauch palästinensischer Zivilisten durch die israelische Armee. 

„Israelische Armee setzt palästinensische Zivilisten ein, um mögliche mit Sprengfallen versehene Tunnel im Gazastreifen zu untersuchen.“ Das titelte am 13. August 2024 die israelische Tageszeitung Haaretz. Anonym bestätigten mehrere israelische Soldaten der Zeitung, dass palästinensische Zivilisten routinemäßig und teils über mehrere Tage zum eigenen Schutz missbraucht würden. Auf die Frage nach dem Grund der Praxis gefragt, antwortete ein Soldat schlicht: „Unser Leben ist wichtiger als ihres.“

Die Realität scheint aber sogar noch menschenverachtender zu sein. So berichtete Haaretz, einer der Gründe, warum die israelische Armee Palästinenser auf der Suche nach Sprengfallen einsetze, sei, um die eigenen Sprengstoffspürhunde nicht zu gefährden. Die Reporter stellten auch klar: Bei all dem handelt es sich nicht um Einzelfälle einzelner Einheiten, sondern um eine routinemäßige Praxis, die mit dem Wissen der höchsten Befehlsebenen geschehe. In einem weiterer Bericht fasste die Haaretz die Praxis der IDF, Palästinenser als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen, mit dieser Überschrift zusammen: „In Gazastreifen hält fast jeder IDF-Trupp ein menschliches Schutzschild – eine Unterarmee palästinensischer Sklaven.“

Al-Jazeera am 22.10.2024

Viele weitere Recherchen unter anderem durch die New York Times , Al-Jazeera, die Washington Post, CNN und Associated Press kamen zu ähnlichen Ergebnissen.

Diese und viele weitere Berichte belegen auch: Selbst vor dem Missbrauch von Kindern schreckt die israelische Armee nicht zurück. In einem am 21. August 2024 veröffentlichten Bericht der NGO Defense for Children International kommen der 13-jährige Abdulrahman und der 12-jährige Karim zu Wort. Die beiden Jungen berichten, wie sie am 27. Dezember 2023 mit etwa 50 weiteren Palästinensern in Gaza-Stadt von israelischen Soldaten verschleppt und anschließend als menschliches Schutzschild missbraucht wurden. 

Sie haben uns beleidigt, mir ins Gesicht geschlagen, mir in den Bauch und in die Seite getreten. Ich dachte, ich würde sterben. Dann zwangen sie uns, vor Bulldozern und Panzern herzulaufen, damit die Widerstandsgruppen sie nicht angreifen.

Das berichtet Karim und Abdulrahman ergänzt:

Die Soldaten feuerten über unsere Köpfe und beschimpften uns. Wir mussten die ganze Nacht im Al-Yarmouk-Stadion hocken – mit gesenktem Kopf, umgeben von Hunden, Soldaten und Panzern. Wer um Wasser bat oder auf Toilette musste, wurde mit Gewehren geschlagen.

Selbst Mitarbeiter internationaler Organisationen sollen von der israelischen Armee als menschliches Schutzschild missbraucht worden sein. Dieses Vorwurf erhob am 29. April 2025 Philippe Lazzarini. Auf X/Twitter berichtete der UNRWA-Chef vom Schicksal von 50 seiner Mitarbeiter: „Sie wurden auf die schockierendste und unmenschlichste Weise behandelt. Sie berichteten, geschlagen und als menschliche Schutzschilde benutzt worden zu sein.“

In mehreren Fällen sollen Palästinenser nach ihrem Missbrauch als menschliches Schutzschild von Soldaten getötet worden sein. Am 16. Februar 2025 veröffentlichte Israels +972-Magazin einen Bericht über den Fall eines 80-jährigen Palästinensers. Dieser sei mit Sprengstoff um den Hals über acht Stunden gezwungen worden, Gebäude zu durchsuchen. Anschließend sei er von israelischen Soldaten erschossen worden. 

Auch der Missbrauch ziviler Infrastruktur für militärische Zwecke durch die israelische Armee ist umfassend dokumentiert. Zwei von hunderten Fällen: Im Februar 2024 besetzten israelische Soldaten die Salah-al-Din-Schule in Gaza-Stadt und richteten dort ein Verhörzentrum für Gefangene ein.

Als Teil der systematischen Zerstörung des Gesundheitssystems im Gazastreifen stürmten israelische Soldaten im November das Türkisch-Palästinensische-Freundschaftskrankenhaus im Süden von Gaza-Stadt. Im Anschluss nutzten israelische Truppen das Krankenhaus monatelang als Militärbasis, bis sie das Krankenhaus und damit die einzige Krebsklinik in der Region im Mai 2025 mit einer kontrollierten Sprengung komplett zerstörten.

Zerstörung des Türkisch-Palästinensische-Freundschaftskrankenhaus am 21. Mai 2025 durch die Israelische Armee

Ist in deutschen Medien von menschlichen Schutzschilden die Rede, geht es fast nie um Israel

Auch fast zwei Jahre nach Beginn des Genozids in Gaza fehlt weiterhin jeder belastbare Beleg für die Behauptung, die Hamas missbrauche Menschen als Schutzschilde oder verstecke sich gezielt in zivilen Einrichtungen, um israelischen Angriffen zu entgehen. Gut belegt hingegen ist der regelmäßige und systematische Einsatz palästinensischer Zivilisten als menschliche Schutzschilde durch die israelische Armee – ebenso wie der Missbrauch ziviler Infrastruktur für militärische Zwecke. 

Von einem Journalismus, der sich an Fakten und nicht an unbelegten Behauptungen orientiert, könnte man eigentlich erwarten, dass er der Öffentlichkeit diese Realität vermittelt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ist in deutschen Medien von “menschlichen Schutzschilden” die Rede, dann ist fast immer die Hamas als Schuldiger ausgemacht. Berichte über die gut dokumentierte Praxis der israelischen Armee, sich hinter palästinensischen Zivilisten zu verstecken, gibt es in deutschen Medien kaum.

In den 14 Monaten Nahost-Berichterstattung vom 7. Oktober 2023 bis zur längst wieder gebrochenen Waffenruhe vom 19. Januar 2025 war in Der Spiegel insgesamt 120-mal von “menschlichen Schutzschilden” die Rede. In 109 Fällen ging es dabei um den angeblichen Missbrauch von Zivilisten durch die Hamas. Neunmal wurde die Hisbollah beschuldigt und in je einem Fall der Iran und pro-palästinensische Demonstranten in Berlin. In keinem einzigen Beitrag findet sich ein Hinweis auf den Missbrauch “menschlicher Schutzschild” durch Israels Armee.  

Erst am 3. Juni 2025 erschien im Spiegel der erste Beitrag, in dem der Begriff „menschliches Schutzschild“ im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen gegen israelische Soldaten vorkommt. Für die Recherche “Wie die israelische Armee offenbar Palästinenser als menschliche Schutzschilde missbraucht” sprachen die Spiegel-Reporter mit Betroffenen aus Gaza und dem Westjordanland, werteten Videomaterial aus, interviewten Expertinnen und lieferten völkerrechtliche Einordnungen. Kurz: Das Stück ist Journalismus, so wie er sein sollte. Für die Berichterstattung des Spiegel und der meisten anderen deutschen Medien bleiben solche Recherchen leider die die absolute Ausnahme. 

Selbst wenn Medien israelische Verbrechen thematisieren, tun sie das im Rahmen israelischer Erzählungen

Bei der Wochenzeitung DIE ZEIT, die ihren Lesern via Instagram erklärte, dass allein die Hamas für die zivilen Toten in Gaza verantwortlich sei, sucht man nach solch einer Ausnahme bis heute vergeblich. Dutzende Male verbreitete die Redaktion seit dem 7. Oktober die unbelegte Geschichte von der Hamas und ihren angeblichen menschlichen Schutzschilden. Über die gut belegte Tatsache des Missbrauchs von Zivilisten durch Israels Armee findet sich in über 2000 Beiträgen lediglich ein einziger Satz.  

 „Vereinzelt ahmten israelische Soldaten Hamas-Taktiken nach und benutzten Zivilisten als menschliche Schutzschilde“, heißt es in einem Essay vom Oktober 2024. Selbst noch mit diesem Satz verbreitet DIE ZEIT mehr Unwahres als Wahres. Denn weder handelt es sich beim Missbrauch durch Israels Armee um vereinzelte Vorfälle, noch ahmt sie damit eine „Hamas-Taktik“ nach.

Auch der Rest des Text spart nicht an Thesen, die eher dem israelischen PR-Apparat als journalistischer Recherche entsprungen sein dürften. Dort heißt es zum Beispiel:  „Zur Wahrheit gehört aber auch: Die asymmetrische Guerillataktik der zynisch berechnenden Hamas-Führung hat die unfassbare Zahl an getöteten Zivilisten billigend in Kauf genommen, jedes unschuldige Opfer nützt ihrer Propaganda”. Zur Wahrheit deutscher Nahostberichterstattung gehört aber auch: Selbst wenn Medien einmal die tödliche Realität israelischer Kriegsführung thematisieren, verbreiten sie damit noch israelische Propaganda.

Das Aufmacherbild zeigt das Gemälde „The Barricade“ des us-amerikanischen Malers George Bellows. Zu sehen sind deutsche Soldaten, die während des Ersten Weltkriegs hinter belgischen Zivilisten in Deckung gehen. Mehr Infos.

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