Wie einseitig ist die deutsche Nahost-Berichterstattung? Um das herauszufinden habe ich fast 5.000 Schlagzeilen deutscher Leitmedien ausgewertet. Das Ergebnis findet ihr im Jacobin-Magazin (und bald in der ausführlichen Variante auf diesem Blog).

Eine Frage, deren ausführliche Beantwortung den Rahmen von Jacobin gesprengt hätte, war: Wie genau funktioniert so eine Auswertung eigentlich? Die Antwort findet ihr hier.
Gegenstand der Untersuchung waren Schlagzeilen zum Thema Nahost, die zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 19. Januar 2025 (dem Beginn des letzten Waffenstillstandes zwischen Israel und der Hamas) auf tagesschau.de, Spiegel.de, Zeit.de und Bild.de erschienen sind.
Warum gerade diese Medien? Sind zählen zu den reichweitenstärksten und damit einflussreichsten deutschen Nachrichtenmedien: die Tagesschau als größtes deutsches Nachrichtenformat, die BILD als größte Tageszeitung, Die Zeit als größte Wochenzeitung und Der Spiegel als größtes Nachrichtenmagazin. Ursprünglich war auch noch die taz dabei. Von der musste ich mich schweren Herzens aus methodischen Gründen auf halbem Weg verabschieden.
Bei Spiegel und Zeit kamen alle Beiträge in die Auswahl, die auf der Nahost-Rubrikseite erschienen sind. Somit entschied nicht ich, sondern die Redaktionen selbst, was ein Nahost-Beitrag ist und was nicht. Bei Tagesschau und BILD funktionierte die Erfassung hingegen über Schlagwörter (israel*, palästin*, gaza*, hamas*, liban*, hisbollah*, syri*, iran*, Huthi*, jemen*, ägypt*, jordan*, irak*). Der Grund: Auf der Nahost-Seite der BILD werden nur die Beiträge der letzten Tage angezeigt. Die Tagesschau-Nahost-Seite wiederum umfasst nur ein Bruchteil der tatsächlich veröffentlichten Nahost-Beiträge (oftmals nur den täglichen Ticker), sodass deren Auswertung nur wenig Aufschluss über die reale Berichterstattung gegeben hätte.
Von den so gesammelten 9.810 Beiträgen habe ich nur Nachrichten berücksichtigt (also keine Kommentare, Interviews, Reportagen, Podcast-Ankündigungen, Bilderstrecken oder Korrespondentenberichte ). Der Grund: Nachrichten sind der Kern des Journalismus und sie funktionieren nach vergleichsweise objektiven Kriterien (keine Meinung, keine szenischen Beschreibungen, nur nachprüfbare Angaben und Fakten). Somit lassen sie sich auch am Besten systematisch auswerten.
Die Entscheidung darüber, was eine Nachricht ist und was nicht, überließ ich – so gut es ging – den Redaktionen. Zu erkennen sind Nachrichten bei den meisten Medien daran, dass kein Autor angegeben ist. Beim Spiegel war stattdessen im System die Autorenkennung „Der Spiegel“ hinterlegt, bei der Zeit „Die Zeit“. Eine Ausnahme war wieder die BILD. Da sich deren Beiträge meist keinen klassischen journalistischen Genres zuordnen ließen, Berichte, Meinung, Reportagen und Interviews oft ineinander übergehen, hab ich hier alle Beiträge ausgewertet (außer sie waren explizit als „Komm
entar“ gekennzeichnet).
Im Fall von Tagesschau, Spiegel und Zeit gelten die Ergebnisse der Untersuchung also explizit nur für den Nachrichtenjournalismus der Redaktionen, nicht für die gesamte Berichterstattung.
Aussortiert haben ich dann alle Beiträge, die nichts oder nur indirekt etwas mit dem Konfliktgeschehen in Nahost zu tun haben. Dazu zählten vielen Beiträge, die von den Redaktionen offenbar irrtümlich in die Rubrik „Nahost“ einsortiert wurden (z.B. zu Fußball oder Ukraine) aber auch Themen wie die Präsidentschaftswahl im Iran, Proteste an US-Unis oder Antisemitismus in Deutschland.
Übrig blieben 4.853 Beiträge: 1759 im Spiegel, 1267 auf Tagesschau.de, 1004 in der BILD und 823 in der Zeit.
Nun begann die eigentliche Arbeit: Die Überschriften dieser Beiträge habe ich ihren Quellen zugeordnet. „Hamas-Tunnel unter UNRWA-Gebäude gefunden“ landete im Topf „israelische Armee“. „Mindestens 50 Tote bei israelischem Angriff auf Flüchtlingslager“ bezog sich auf Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministerium. Die Meldung „Gesundheitssystem in Gaza laut Uno ‚am Rande des Zusammenbruchs'“ ging auf die Vereinten Nationen zurück. Das Ganze geschah 4.853-mal, alles von Hand und nochmal von einer zweiten Person überprüft.
In einigen Fällen konnten Überschriften keiner Quelle zugeordnet werden – etwa bei Überblicksbeiträgen wie „20 Jahre Gewalt in Gaza – der Rückblick“. Solche Beiträge (ca. 2,5 Prozent) wanderten in die Kategorie „nicht zuordenbar“. Kamen mehrere voneinander unabhängige Quellen infrage – etwa wenn Hamas, Israelische Armee und das Rote Kreuz unabhängig voneinander die Freilassung von Geiseln bestätigten – fiel die Wahl auf jene Quelle, die im Beitrag (zuerst) genannt wurde.
Manche Quellen habe ich im Sinne des Untersuchungsinteresses priorisiert: Welche offiziellen Angaben etwa von Israel, UN oder Hisbollah verwendet wurden, war wichtiger als die Frage, aus welchem Medienbericht die Angabe stammt. Tauchte in einer Spiegel-Schlagzeile beispielsweise ein Zitat von Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah auf, fiel die Nachricht in die Kategorie „Hisbollah”, auch wenn Der Spiegel das Zitat nicht aus Hisbollah-Kanälen, sondern aus einer dpa-Meldung (Medien/ Deutschland) und die dpa dies aus einem Auftritt Nasrallahs im libanesischen Fernsehsender Al-Manar hat (Medien/ Libanon) hatte.
Das ist ein auch Grund, warum die Untersuchung keine Rückschlüsse auf den Anteil an Agenturmeldungen in der Berichterstattung zulässt. Ein anderer ist, dass Agenturangaben oft von den Redaktionen nicht gekennzeichnet wurden.
Die Quellen habe ich dann in verschiedene Kategorien zusammengefasst: einmal nach Ländern („Libanon“, „Israel“, „Deutschland“ usw.) und einmal nach der Art der Quelle („Staat“, „Medien“, „NGOs“ usw.). Um Vergleichbarkeit zu schaffen, landeten auch staatsähnliche Akteure wie die Hamas, Palästinensische Autonomiebehörde, Hisbollah und Huthis in der Kategorie „Staat“.
Am Ende wurde alles durchgezählt, ausgerechnet, miteinander verglichen und überprüft. Das Ergebnis findet ihr bei Jacobin.