136 Vertreter Israels, 4 Palästinas

Zu einseitig, zu stereotyp, zu proisraelisch. Seit anderthalb Jahren stehen deutsche Medien für ihre Nahost-Berichterstattung in der Kritik. Eine Auswertung von 470 Tagesschau-Sendungen seit dem 7. Oktober 2023 zeigt: Es ist noch viel schlimmer.

Audiatur et altera pars („Man höre auch die andere Seite“). Diese römische Juristen-Floskel taucht in gefühlt jedem zweiten Journalismus-Handbuch auf. Zu Recht. Das Gebot, möglichst perspektivenreich zu berichten, gehört zu den Grundlagen journalistischen Handwerks – festgeschrieben in Medienstaatsverträgen, Programmaufträgen, Presse-Ratgebern und den Selbstverpflichtungen von Journalistenvertretungen.

Soweit die Theorie. Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 hat der Glaube an die realexistierende Perspektivenvielfalt deutscher Medien arge Risse bekommen. Israelische Perspektiven würden unkritisch übernommen, palästinensische Stimmen zum Schweigen gebracht. So klagen Kritiker immer wieder. Zu Recht?

Um das herauszufinden, habe ich mir das Aushängeschild des deutschen Nachrichtenjournalismus genauer angeschaut: die Tagesschau. Wer kommt in Deutschlands renommiertesten Nachrichtenformat zu Wort und wer nicht? Wie oft hören wir israelische Perspektiven, wie oft palästinensische und wie oft jene unabhängiger Akteure wie Menschenrechtsorganisationen und internationale Organisationen?

Gefunden habe ich einen extremen Bias zugunsten offizieller israelischer Standpunkte. Benachteiligt werden nicht nur palästinensische Perspektiven. Auch unabhängige Akteure und Personen, die dem Krieg in Nahost kritisch gegenüber stehen, kommen in der Tagesschau auffällig selten zu Wort.

So wurde gezählt: Untersucht habe ich alle 20-Uhr-Nachrichten der Tagesschau, begonnen am Tag des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2023 bis zum 18. Januar 2025 – dem vorläufig letzten Tag des Krieges, bevor die mittlerweile wieder gebrochene Waffenruhe in Kraft trat. Aussortiert habe ich alle Sendungen ohne direkten Nahost-Bezug. Auch Beiträge mit rein innenpolitischen Bezug zum Thema spielten keine Rolle (z.B. Antisemitismus in Deutschland, pro-palästinensische Proteste an US-Unis). So blieben von insgesamt 470 Sendungen noch 312 übrig. In diesen habe ich jede Person gezählt, die in Bild und Ton zu Wort kam, Tagesschau-Sprecherinnen und Korrespondenten ausgenommen. Insgesamt waren das 672 Personen. Ob die Aufnahmen von der Tagesschau selbst, von anderen Medien oder aus Regierungskanälen stammen, spielte keine Rolle. Entscheidend war: Welche Perspektiven bekommt das Tagesschau-Publikum zu Gesicht und welche nicht.

Nur Israel darf sich selbst erklären

Man werde die “Feinde beseitigen und die Sicherheit wiederherstellen”, versprach Benjamin Netanjahu in der Tagesschau vom 7. Oktober 2023. Der israelische Ministerpräsident ist der mit Abstand häufigste O-Ton-Geber in den Abendnachrichten. In 63 Sendungen war er zu hören und zu sehen. Gemeinsam mit seinen Kollegen aus Politik und Militär brachten es offizielle israelische Vertreter in den 20 Uhr-Nachrichten der Tagesschau auf insgesamt 136 Auftritte.

Als einziger Konfliktpartei gibt die Tagesschau Israel regelmäßig die Gelegenheit, die eigenen Kriegsziele zu erläutern, zu Anschuldigungen Stellung zu nehmen oder ihre Deutung aktueller militärischer Angriffe zu präsentieren. Dabei scheint es unerheblich, von wem Anschuldigungen und Aggressionen ausgehen.

Egal ob aus Gaza Israel angegriffen wird oder Israel Gaza angreift, die UN Israel kritisiert oder Israel die UN, Iran Raketen auf Israel schießt oder vice versa, meist präsentiert die Tagesschau dazu die Einschätzung eines israelischen Regierungspolitikers oder Armeesprechers. Häufig ist diese sogar die einzige.



Palästina so relevant wie Luxemburg und Spanien

Offizielle palästinensische Stimmen sind in der Tagesschau kaum zu hören. Das gilt für Repräsentanten aus dem Gazastreifen genauso wie für jene aus dem Westjordanland, für Vertreter der Hamas ebenso wie für jene von Fatah, der Palästinensischen Autonomiebehörde, der PLO und aller anderen palästinensischen Gruppierungen und Institutionen.

Den 136 Auftritten israelischer Militärs und Politiker standen in 16 Monaten Nahost-Berichterstattung der Tagesschau gerade einmal 4 Auftritte palästinensischer Politiker gegenüber. Auf genauso viele Statements brachte es Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu allein in den ersten acht Tagen des Krieges. Palästinensische Repräsentanten und ihre Perspektive auf den Krieg in Nahost bekamen in der Tagesschau damit ähnlich viel Raum wie jene Luxemburgs (3 Auftritte) und Spaniens (5 Auftritte).

Drei Monate, 83 Sendungen und 59 Auftritte israelischer Militärs und Politiker vergingen, bis das Tagesschau-Publikum am 3. Januar 2024 mit Hamas-Chef Ismail Haniyya erstmals einen palästinensischen Politiker zu Gesicht bekam. Ein Vertreter der Fatah-dominierten Regierung in Ramallah kommt erstmals über acht Monate nach Kriegsbeginn in der Tagesschau zu Wort: Am 11. Juni 2024 begrüßt der UN-Botschafter Palästinas Riyad Mansour eine Resolution des UN-Sicherheitsrates. Der vom Westen anerkannte palästinensische Präsident Mahmoud Abbas und sein Ministerpräsident Mohammad Mustafa waren in der Tagesschau bisher kein einziges Mal zu hören.

Wenn Palästinenser, dann als Betroffene

Ausgeglichener erscheint das Verhältnis bei Menschen, die als Privatpersonen zu Wort kommen. Hierbei handelt es sich vor allem um Betroffene des Krieges, aber auch Demonstrantinnen oder zufällig befragte Passanten habe ich dieser Kategorie zugeordnet. Hier stehen 99 palästinensische Stimmen 89 israelischen gegenüber.

Berücksichtigt man, dass es für die Tagesschau angesichts einem Vielfachen israelischer Angriffe und palästinensischer Opfer, wesentlich mehr nachrichtliche Anlässe gab, um palästinensische Betroffene zu Wort kommen zu lassen, erscheinen israelische Perspektiven aber auch hier überrepräsentiert zu sein. So handelt es sich bei 53 der 89 israelischen Stimmen allein schon um die Geiseln und Opfer des Angriffs vom 7. Oktober sowie deren Angehörige und Unterstützerinnen.



Israelische Anti-Terror-Experten, Palästinensische Ärzte,

Dass Palästinenser für die Tagesschau-Redaktion fast nur als Betroffene Relevanz haben, zeigt sich auch bei der dritten Kategorie an O-Ton-Gebern. Hier habe ich Personen zusammengefasst, die aufgrund ihrer beruflichen Beschäftigung mit dem Thema befragt werden, ohne dabei eine politische Institution zu vertreten.

Mit 17 Israelis und 15 Palästinensern scheint auch hier das Verhältnis ausgeglichen. Große Unterschiede gibt es, schaut man sich an, welche israelischen und palästinensischen Fachleute die Tagesschau genau auswählt. Während auf israelischer Seite vor allem ehemalige Angehörige des Sicherheitsapparates sowie weitere “Sicherheits-” und “Anti-Terrorexperten” zu Wort kommen (10 von 17), sind es auf palästinensischer Seite vor allem Ärzte, Krankenhausdirektoren und Rettungskräfte.

Palästinenser in der Rolle von Experten, die sich etwa als Völkerrechtlerinnen oder Politikwissenschaftler akademisch mit dem Thema beschäftigen, kamen in der Tagesschau-Berichterstattung seit dem 7. Oktober 2023 nicht vor.

Baerbock, Biden, Blinken

Auch Israels engste Verbündete erhielten in der Tagesschau vergleichsweise viel Sendezeit. Politische und militärische Vertreter und Vertreterinnen aus Deutschland waren 52-mal, jene aus den USA 39-mal zu Gast. Ist in der Tagesschau eine politische Stimme aus Deutschland zu hören, handelte es sich in den meisten Fällen um Annalena Baerbock. In 312 Sendungen mit Nahost-Bezug brachte es die Bundesaußenministerin auf insgesamt 30 Auftritte. Die häufigsten US-amerikanischen Stimmen sind die von US-Präsident Joe Biden (13 Auftritte) und Außenminister Antony Blinken (11 Auftritte).

Mitglieder der Opposition oder Politiker, die der Nahostpolitik der Bundesregierung kritisch gegenüberstehen, spielten in der Berichterstattung der Tagesschau so gut wie keine Rolle. Die einzigen Ausnahmen in 16 Monaten Nahost-Berichterstattung waren zwei Einspieler aus Bundestagsdebatten, in denen am 11. und 12. Oktober 2023 in der Tagesschau zwei Stimmen aus CDU/CSU und je ein von Linke und AfD zu hören sind.



Die Vereinten Nationen als (einziger) Gegenspieler Israels

Vertreter internationaler Organisationen wie den Vereinten Nationen (UN), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder dem Internationalen Gerichtshof (IGH) kamen in der Tagesschau 51-mal zu Wort. Am häufigsten war UN-Generalsekretär António Guterres mit 8 Auftritten vertreten. 

Auffällig ist, in welcher Rolle ihre Vertreter von der Tagesschau besetzt werden: Mit Blick auf ihre fachliche Expertise, politischen Neutralität und völkerrechtliche Bedeutung könnte man annehmen, dass O-Töne von Vertretern internationaler Organisationen dazu dienen, die widerstreitenden Perspektiven der Konfliktparteien um eine vergleichsweise objektive Sicht der Dinge zu ergänzen. Stattdessen stellt die Tagesschau die Perspektiven von UN und israelischer Regierung oft als gleichberechtigte Gegensätze gegenüber. 

Zwei Beispiele von vielen: Als am 14. März 2024 OCHA-Sprecher Georgios Petropoulos auf die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen infolge der israelischen Belagerung hinweist, blendet die Tagesschau als nächstes einen Sprecher des israelischen Verteidigungsministeriums ein, der die Schuld internationalen Organisationen zuweist. Als am 10. Dezember 2024 Israels Premier Benjamin Netanjahu die Angriffe auf Syrien rechtfertigt, erscheint als nächstes der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, der die Angriffe kritisiert.

Gewissermaßen übernimmt die Tagesschau damit eine Erzählung der israelischen Regierung, wonach es sich bei UN, WHO oder IGH nicht um neutrale Institutionen, sondern um Gegner Israels handelt. Diese Gegenüberstellung wirkt umso stärker, da die eigentlichen Gegner Israels (Hamas, Hisbollah, Huthis, Iran…) in der Berichterstattung der Tagesschau kaum zu Wort kommen. 

Kaum Stimmen humanitärer Organisationen

Überraschend ist auch, welche Stimmen in der Tagesschau nicht zu hören sind: UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini, dessen Organisation mit Tausenden Mitarbeitern für einen Großteil der humanitären Versorgung im Gazastreifen verantwortlich ist, war in 16 Monaten Berichterstattung nur ein einziges mal zu hören. Die UN-Sonderbeauftragte für Palästina Francesca Albanese kam in der Tagesschau ebenfalls nicht zu Wort. In vielen internationalen Medien gehören Lazzarini und Albanese zu den bekanntesten und vehementesten Kritikern der israelischen Kriegsführung.

Auch Vertreter privater Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen hört man in der Tagesschau auffällig selten. In Gaza aktive NGOs wie Ärzte ohne Grenzen und Save The Children kamen in der Tagesschau ebenso wenig Raum wie Vertreter der großen Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch – und das obwohl diese seit Beginn des Krieges regelmäßig umfassende Berichte zum Ausmaß von Krieg und humanitärer Katastrophe veröffentlichen.

Lediglich 2 von 672 Stimmen in 16 Monaten Berichterstattung gehörten Vertretern von NGOs, die das Leben im Gazastreifen täglich aus nächster Nähe erleben und so am ehesten dazu beitragen können, den Nebel des Krieges zu lichten. Auf so viele Statements kommen Vertreter aus Israels Militär und Politik häufig in einer einzelnen Sendung.

Das gilt auch für die Sendung, die – wäre die Waffenruhe nicht Mitte März wieder gebrochen worden – die letzte dieses Krieges hätte sein können. Am Abend vor Inkrafttreten des Waffenstillstandes vom 19. Januar 2025 hat ein mittlerweile vertrautes Gesicht seinen insgesamt 63. Auftritt: „Wenn es nötig ist, erneut zu kämpfen, werden wir das tun. Auf neue Weise und mit neuer Macht und Kraft.” Die Berichterstattung der Tagesschau über den Krieg in Nahost endet vorerst wie sie 16 Monate zuvor begonnen hat: mit einem Statement von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

Das Aufmacherbild zeigte alle Auftritte israelischer (blau eingefärbt), palästinensischer (grün) und libanesischer (gelb) Politiker und Militärs in den 20-Uhr-Nachrichten der Tagesschau vom 7. Oktober 2023 bis 3. Januar 2024.

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