Mythen und Fakten zu “Ehrenmorden”

Ehrenmorde. Für die einen der Beweis islamischer Frauenverachtung, vor der viele aus falsch verstandener kultureller Toleranz die Augen verschließen. Für die anderen versteckt sich hinter dem Phänomen nicht mehr als ein “Familiendrama” mit Migrationshintergrund, ein Kampfbegriff um Minderheiten zu diskriminieren. Die Wahrheit ist komplizierter.

Der Unterschied zwischen “Ehrenmorden” und anderen Beziehungstaten liegt in der Beteiligung der Familie

Eine einheitliches Verständnis des Phänomens “Ehrenmord” gibt es nicht. Medien, Sicherheitsbehörden und Wissenschaftlerinnen gebrauchen den Begriff auf ganz unterschiedliche Weise. Das Bundeskriminalamt hat eine eigene Definition, ebenso wie Amnesty International.

Was den meisten Definitionen gemein ist: Beim “Ehrenmord” steht – anders als bei anderen Beziehungstaten – nicht die individuelle Kränkung des Täters im Vordergrund. Stattdessen dient die Tat der Wiederherstellung der “Ehre” einer ganzen Familie. Die Hamburger Soziologin Ayfer Yazgan defininiert in ihrer Untersuchung “Morde ohne Ehre” die Taten als:

Tötungsdelikte, die als Tatmotiv die Wiederherstellung der Familienehre haben, die infolge des als unehrenhaft beurteilten Verhaltens des Opfers verletzt wurde

Ein weiteres Merkmal: Anders als bei anderen Formen von Partnergewalt geschieht auch der Entschluss zur Tat häufig im Familienkreis. Meist wird die Tat durch mehrere Angehörige geplant.

Tagesspiegel vom 6.8.21

Fast alle “Ehrenmörder” in Deutschland stammen aus überwiegend muslimischen Ländern

Ob und wie viele solcher Taten es in Deutschland gibt, haben der Soziologe Dietrich Oberwittler und die Rechtswissenschaftlerin Julia Kasselt versucht herauszufinden. Für das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht haben sie im Auftrag des Bundesinnenministeriums Prozessakten und über 90.000 Agenturmeldungen zu Tötungsdelikten der dpa untersucht.

Für den Zeitraum 1996 bis 2005 stießen sie auf insgesamt 78 Tötungsdelikte in Deutschland, die sich klar als “Ehrenmord” einordnen lassen. Wobei die Dunkelziffer hier wie bei allen Straftaten höher liegen kann. In fast allen Fällen waren die Täter Männer und hatten Wurzeln in mehrheitlich muslimischen Ländern. Das bedeutet allerdings nicht, dass nur Muslime Ehrenmorde begehen. Auch Christen und Jesiden finden sich unter den Tätern. Genauer:

  • 93 Prozent der Täter waren Männer
  • 92 Prozent wurden außerhalb Deutschlands geboren
  • 91 Prozent besaßen keine deutsche Staatsangehörigkeit
  • 63 Prozent der Täter stammten aus der Türkei
  • 14 Prozent der Täter stammten aus arabischen Ländern

Nur in einem einzigen Fall fanden Oberwittler und Kasselt einen deutschen Täter ohne Migrationshintergrund: Der deutsche Auftragskiller war von einer jesidischen Familie engagiert worden.

[Ich habe Julia Kasselt zu den Ergebnissen ihrer Untersuchung befragt. Das Interview mit der Juristin findet ihr hier.]

Ehrenmorde sind kein islamisches Phänomen

Die meisten “Ehrenmörder” in Deutschland sind Muslime. Da drängt sich die Frage auf: Haben “Ehrenmorde” etwas mit dem Islam zu tun? Nein.

Zahlen der Vereinten Nationen zeigen: Von den rund 5.000 Ehrenmorden, die die Organisation jährlich erfasst, werden zwar viele in überwiegend islamischen Ländern wie Türkei, Pakistan und Jordanien begangen. Aber auch in Süd- und Lateinamerika und Indien sind Ehrenmorde verbreitet.

Fragt man islamische Theologen zum Thema, verweisen die darauf, dass sich im islamischen Recht keinerlei Bestimmungen finden, die Ehrenmorde vorsehen oder legitimierten. Viele islamische Theologen sind sogar der Meinung, dass die Verbreitung des rechtlichen Ordnungssystems Islam eher dazu beigetragen habe, das vorislamische Phänomen des Ehrenmordes einzudämmen.

Auch die Frauenrechtsorganisation Terre de Femmes kommt in einer Untersuchung zum Ergebnis, dass es sich bei den Taten um “kein explizit religiöses Phänomen” handelt. Und Ayfer Yazgan schreibt in ihrer Untersuchung “Mord ohne Ehre”:

Ehrenmorde in westlichen Großstädten, meist begangen von Personen mit Migrationshintergrund, erregen öffentliches Aufsehen. Die Wurzeln dieser Taten aber liegen in ländlichen Gegenden mit einer eher archaisch-patriarchalen Sozialstruktur.

Gewalt im Namen der Ehre entsteht dort, wo staatliche Autorität fehlt

Was die meisten Ehrenmorde von der Türkei über Deutschland bis Südamerika eint: Die Täter stammen aus ländlichen Gebieten und bäuerlichen Gesellschaften. Nicht nur das konservative Werteverständnis in solchen Gegenden, auch das Fehlen staatlicher Gewalt in abgelegenen Gebieten begünstigt das Entstehen eigener Rechtssysteme.

Wo staatliche Ordnung fehlt, bildet die Familie die entscheidende Einheit: sozial, ökonomisch und politisch. Die “Ehre” einer Familie wird zum entscheidenden sozialen Kapital und die Beseitigung einer “Ehrverletzung” wichtig für das soziale Gefüge innerhalb der Gemeinschaft. Auf diesen Zusammenhang wies schon 1983 der Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer hin. In seiner Untersuchung “Die Gewalt der Ehre” schreibt er:

Der Begriff der Ehre impliziert eine Grenze zwischen den Angehörigen der eigenen Gruppe, der Familie, und der übrigen Gesellschaft. (…) Jeder, der, gleichgültig aus welchem Grund, diese Grenze verletzt, hat mit Vergeltung zu rechnen. (…) Da staatliche Instanzen meist zu weit entfernt sind, um wirksam für die Regelung von Alltagshändeln in Anspruch genommen werden zu können, verbürgt die Solidarität der Familie auch die soziale Sicherheit ihrer Mitglieder.

Dass dabei “islamisch” eine nicht übermäßig relevante Variable ist, zeigt ebenfalls der Blick in den Osten der Türkei. Unter den ostanatolischen Tätern finden sich nicht nur türkische und kurdische Muslime, sondern genauso Jesiden und syrisch-orthodoxe Aramäer.

Es gibt keinen Kultur-Rabatt für Ehrenmörder

Ins Reich der Mythen gehört auch die Vorstellung eines “Kultur-” oder “Islam-Rabatts”. Demnach würden Richter und Richterinnen aus Rücksicht auf vermeintliche kulturellen Gepflogenheiten besonders milde Urteile für muslimische Täter verhängen. Größere Aufmerksamkeit erregte zum Beispiel ein Fall aus dem Jahr 2014, über den die Bild-Zeitung berichtete.

Der BILD-Mythos vom “Islam-Rabatt” für Ehrenmörder. Festgehalten vom BILDblog.

Ob an der Theorie etwas dran ist, hat ebenfalls die Rechtswissenschaftlerin Julia Kasselt untersucht. Die Kriminologin hat in ihrer Dissertation 63 Fälle von Ehrenmorden und 91 Fälle von klassischen Beziehungstaten ausgewertet. Ihr Ergebnis: Ehrenmörder erhielten im Durchschnitt nicht geringere, sondern höhere Freiheitsstrafen:

  • 38 Prozent der Ehrenmörder erhielten eine lebenslange Freiheitsstrafe (vs. 23 Prozent bei vergleichbaren Partnertötungen)
  • 17,5 Prozent der Täter erhielten eine Strafe zwischen 12,5 und 15 Jahren (vs. 10 Prozent bei vergleichbaren Partnertötungen)
  • Seit 2002 verhängen Richter immer höhere Strafen für Ehrenmorde. Bei vergleichbaren Tötungsdelikten findet sich dieser Trend nicht.

Gegenüber vergleichbaren Tötungsdelikten gibt es also meist keinen Rabatt für Ehrenmörder, sondern einen Strafaufschlag.

Die Zahl der “Ehrenmorde” nimmt immer weiter ab

Und noch ein Trend zeichnet sich bei “Ehrenmorden” ab: Es werden immer weniger. Laut der Untersuchung von Julia Kasselt und Dietrich Oberwittler werden alle Ehrenmorde in Deutschland von Migranten aus der ersten Einwanderergeneration begangen werden. Bei Menschen, die seit mehreren Generationen hier leben, existiert das Phänomen so gut wie nicht.

Die Zahl der Taten ist mittlerweile so gering, dass sich für Deutschland kaum noch wirklich repräsentative statistische Aussagen treffen lassen. Kasselt und Oberwittler schätzen die Zahl der “Ehrenmorde” (inklusive versuchter Taten) in Deutschland auf – je nach Definition – drei bis zwölf Fälle pro Jahr.

Die meisten “Ehrenmord”-Schlagzeilen handeln nicht von Ehrenmorden

Eichsfelder Tageblatt vom 6.8.21

Zählt man hingegen die Fälle, in denen Medien über “Ehrenmorde” in Deutschland, berichten, kommt man auf eine weit höhere Zahl. Bei genauerem Hinsehen fällt allerdings auf: Bei den meisten dieser Taten gibt es keine Hinweise auf eine Beteiligung der Familie. Sie unterscheiden sich von konventionellen “Beziehungstaten” ausschließlich durch die Herkunft oder Religion des mutmaßlichen Täters.

Mit anderen Worten: Ob Medien eine Tat als “Familiendrama” oder “Ehrenmord” bezeichnen, entscheidet sich meist nicht an der Tat selbst, sondern an der (gemutmaßten) Herkunft des Täters. Mehr noch: Ob Medien überhaupt über einen Fall von Partnergewalt berichten, hängt vor allem von der Herkunft des Täters ab.

Ehrenmord? Familiendrama? Femizid!

Die Folge: Während fast jeder echte oder vermeintliche “Ehrenmord” in den Medien breit diskutiert wird, bleibt der Großteil der Gewalt gegenüber Frauen unsichtbar.

Nach den jüngsten Zahlen des Bundeskriminalamts wurden im Jahr 2019 141.792 Fälle von “Partnerschaftsgewalt” polizeilich erfasst. 117 Frauen sind infolge der Gewalt gestorben.

News.de am 2.6.21

Über die meisten dieser Fälle berichteten Medien gar nicht – und wenn doch dann häufig nur im Lokalteil unter beschönigenden Überschriften wie “Familiendrama” oder “Eifersuchtstat”.

Dabei zeigen wissenschaftliche Untersuchungen längst: Bei Gewalt von Männern gegenüber Frauen handelt es sich nicht um zufällige Einzelfälle, sondern ebenfalls um ein kulturelles Phänomen. Dessen Wurzeln liegen allerdings weder im Islam, noch in Anatolien. Problematische Rollenbilder sind der Grund, warum weltweit Frauen sterben müssen, wenn Männer sich in ihrer “Männlichkeit” verletzt fühlen.

Um dieses kultur- und länderübergreifende Phänomen zu beschreiben, gibt es übrigens einen besseren Begriff als “Ehrenmord” oder “Familiendrama”: Femizid.

[Das Aufmacherbild entstand zu einer Zeit als Ehrenmorde in der westlichen Welt noch als Tat von Gentlemen galten. Zu sehen sind Aaron Burr und Alexander Hamilton, zwei der Gründerväter der USA. Letzter überlebte das Duell am 11. Juli 1804 nicht. Mehr Infos.]

So ein Text macht echt viel Arbeit. Wenn euch der Beitrag gefallen hat und ihr mehr Berichterstatttung über Islamfeindlichkeit wollt, würde ich mich freuen, wenn ihr Schantall und die Scharia finanziell unterstützt: einmalig via PayPal oder regelmäßig per Steady.

5 Kommentare On Mythen und Fakten zu “Ehrenmorden”

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  • Ein Ehrenmord ist eine Beziehungstat, die ein Moslem begeht. Und egal, ob die Familie oder nur der Partner beteiligt ist, die Krawallpresse feuert dann aus allen Rohren. Bei einer identischen Fallkonstruktion aber einem deutschen Täter, wird hingegen gerne Verständnis gezeigt („er wusste nicht weiter“) oder eine romantische Verklärung bemüht („er tötete, weil er sie liebte…“). Auch nicht fehlen darf die sprachliche Verharmlosung („Familiendrama“, „Liebestragödie“). Aber wie gesagt, nur bei deutschen Tätern. Soviel zum „Islam-Rabatt“.

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  • Wolf-Dieter Busch

    Ohne es ausdrücklich verfolgt zu haben schätze ich, dass der „Ehrenmord“ in moslemischen Ländern nicht vorkommt. (Steinigung für Ehebruch in einigen Länder fällt in eine andere Kategorie.)

    Das Phänomen „Ehrenmord“ sehe ich als Kulturkonflikt: die auswärts sozialisierte Familie (Einwanderer aus moslemischer Gegend) gerät in Konflikt mit der westlichen sozialisierten Umgebung (Deutschland), wo sich die Frau in der Gesellschaft „frei“ (sic!) bewegen darf, sogar eigenverantwortlich Beziehungen knüpfen und lösen (!). In einigen Herkunftsländern undenkbar.

    Infolge Schulpflicht kommt die heranwachsende Tochter des Hauses in Kontakt mir der Außenwelt und nimmt sich „Freiheiten“ heraus.

    Ich nehme übrigens nicht moslemische Frauenverachtung wahr, sondern moslemisch geprägte Rolle. Aus westlicher Sicht diese Polemik: die Frau ist dort hochpreisiges Nutzvieh. Der Landwirt „verachtet“ ja auch nicht seine Milchkuh.

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