Natürlich darf der Muezzin rufen

Lärmschutz, christliche Tradition, irgendwas mit Erdoğan: Seit Tagen diskutieren Politik und Medien darüber, ob der Muezzin zum Gebet rufen darf. Dabei gibt das Grundgesetz eine eindeutige Antwort.

Die Debatte findet kein Ende. Seit der Ankündigung von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker, muslimischen Gemeinden den öffentlichen Gebetsruf (Adhan) zu erlauben, erklären Politiker, Journalistinnen und „Experten“ was ihrer Meinung nach für oder gegen den Ruf des Muezzins spricht: Die einen argumentieren mit persönlichen Erfahrungen, die zweiten machen den Adhan abhängig von der Erfüllung integrationspolitischer Forderungen, die dritten reihen einfach Klischees aneinander. Das mag alles sehr interessant sein, für die Frage, ob Muslime zum Gebet rufen dürfen, ist die Diskussion aber letztlich unerheblich. Denn die Antwort ist eindeutig: Natürlich dürfen sie.

Zum Glück ist die Religionsfreiheit in Deutschland nicht von der Zustimmung der “Experten” von DIE ZEIT abhängig. Beitrag vom 20.10.21.

Die Religionsfreiheit schützt auch öffentliche Rufe zum Gebet


Der simple Grund: Art. 4 des Grundgesetzes. In Absatz 1 heißt es dort: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“. Absatz 2 fügt hinzu: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Dass die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit auch öffentliche Gebetsrufe abdeckt, ist unter Juristen unstrittig.

In einem Überblicksaufsatz zur juristischen Debatte um den Muezzinruf kam Thomas Schmitt, heute Professor für “Cultural Heritage” an der Uni Heidelberg, im Jahr 2003 zum Ergebnis, dass die Frage, ob der Muezzinruf unter die Religionsfreiheit falle, generell bejaht werde.

Maßgeblich ist auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Religionsfreiheit „extensiv“ zu interpretieren sei:

Zur Religionsausübung gehören danach nicht nur kultische Handlungen und Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozession, Zeigen von Kirchenfahnen, Glockengeläute, sondern auch religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.

So sieht es auch die Bundesregierung. In einer Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Thema „Islam in Deutschland“ aus dem Jahr 2000 schreibt sie:

Der islamische Gebetsruf als Betätigung einer Glaubensüberzeugung im Sinne der Bekenntnisfreiheit und der freien Religionsausübung wird durch Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt.

Die negative Religionsfreiheit spricht nicht gegen Muezzinrufe

Gegner von Muezzinruf und/ oder Glockenläuten argumentieren häufig, dass die Religionsfreiheit der Gläubigen dann ihr Ende finde, wenn die Religionsfreiheit von Dritten, also zum Beispiel von Anwohnern, gefährdet sei. Doch das stimmt nicht. Entgegen dem landläufigen Verständnis begründet die sogenannte „negative Religionsfreiheit“ kein Recht darauf, von religiösen Bekundungen unbehelligt zu bleiben. Sie bedeutet lediglich, dass niemand zu religiösen Bekenntnissen oder Praktiken gezwungen werden darf.

Im Kruzifix-Urteil von 1995 erklärte das Bundesverfassungsgericht beispielsweise, der Einzelne habe…

…in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben.

In diesem Sinne wies auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen im Jahr 2020 eine Klage gegen einen Muezzinruf ab. Die Richterin urteilte damals: „Jede Gesellschaft muss akzeptieren, dass man mitbekommt, das andere ihren Glauben ausleben.“

Auch mit christlicher Tradition lässt sich kein Muezzin verbieten

Politikerinnen, die den Adhan verbieten wollen, ohne auf Kirchenglocken verzichten zu müssen, greifen ohnehin lieber zu einem anderen Argument. Ihnen zufolge passe der muslimische Gebetsruf schlicht nicht zur christlichen Kultur des Landes. Lässt sich diese These juristisch untermauern? Ja. Zumindest wenn man im Jahr 1955 hängengeblieben ist.

In einer aus heutiger Sicht abenteuerlich anmutenden Argumentation urteilte das Bundesverfassungsgericht damals:

Das Grundgesetz hat nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat.

Wer nun hofft, das passende Urteil gefunden zu haben, um allen Nicht-Christen ihre Religionsfreiheit abzusprechen, muss leider enttäuscht werden: Die sogenannte „Kulturadäquanzklausel“ wurde von späteren Verfassungsrichtern nie wieder aufgegriffen und spielt heute keine Rolle mehr. Die heutige Rechtsauffassung ist eindeutig: Das Grundrecht auf freie Ausübung der Religion gilt für alle Gläubigen gleich welcher Religion.

Richter machen (fast) keinen Unterschied zwischen Gebimmel und „Allahu Akbar“

Trotzdem könne man Glockengeläut und Adhan doch nicht gleichsetzen. Schließlich handelt es sich bei dem einen nur um harmloses Gebimmel, während die anderen ihre Nachbarschaft mit einem religiösen Bekenntnis beschallen. Dieses Argument hat tatsächlich juristische Relevanz. Allerdings zugunsten der Muslime.

Denn gerade der eindeutig religiöse Charakter des Adhan lässt keinen Zweifel daran, dass der muslimische Gebetsruf unter die Religionsfreiheit fällt.

Allahu Akbar (4x), Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt (2x), Ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist (2x), Kommt her zum Gebet (2x)
Kommt her zum Heil (2x), Allahu Akbar (2x), Es gibt keinen Gott außer Allah

Im Falle von Kirchenglockenläuten unterscheiden Juristinnen hingegen manchmal zwischen liturgischem (z.B. Gottesdienst, Taufe) und profanem Glockenläuten (z.B. Zeitangabe, Sturmwarnung). Nur erstes fällt dieser Argumentation zufolge unter den Schutz der Religionsfreiheit.

Andere Juristen sehen hingegen jegliches Glockengeläut von der Religionsfreiheit gedeckt. Sie argumentieren: Eine staatliche Unterscheidung zwischen liturgischem und profanem Geläut sei ein unzulässiger Eingriff in die Autonomie der Religionsgemeinschaften.

Lärmschutz kann Gebetsrufe einschränken aber nicht verhindern

Grenzenlos ist das Recht auf öffentliche Gebetsrufe dennoch nicht. Das in der Rechtsprechung häufigste und wirksamste Instrument gegen öffentliche Gebetsrufe: Lärmschutz. Zwar stehen Glockengeläut und Muezzin-Rufe unter dem Schutz der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit, unantastbar macht sie das dennoch nicht. Vor allem dann nicht, wenn sie mit anderen Grundrechten kollidieren.

Ein von Kirchenglocken oder Allahu-Akbar-Rufen täglich aus dem Schlaf gerissener und in Schlafstörungen, Migräne und Depressionen gestürzter Anwohner kann mit gutem Grund auf die Verletzung von Art. 2 , Abs.2 des Grundgesetzes verweisen: das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Der Großteil der Gerichtsverhandlungen zu Kirchenglockenläuten befasst sich tatsächlich mit diesem Konflikt.

Aber auch in diesen Fällen führt die Rechtsprechung nicht zum Verbot von Gebetsrufen. „Praktische Konkordanz“ nennen Juristen das Prinzip, wonach bei kollidierenden Grundrechten ein Ausgleich angestrebt werden sollte. In der Praxis bedeutet das zum Beispiel: der Muezzin ruft etwas leiser, die Kirchenglocken läuten etwas später.

Häufig urteilen Richterinnen aber auch ganz zu Gunsten der Religionsfreiheit und muten Anwohnern Gebetsrufe jenseits der örtlich geltenden Lärmschutzbestimmungen zu. Urteile hingegen, in denen ein öffentlicher Gebetsruf zugunsten lärmgeplagter Anwohnerinnen generell untersagt wurde, gibt es nicht.

Was es dennoch reichlich gibt, sind Politiker, Journalistinnen und „Experten“, die fordern Muslime die Ausübung ihrer Religionsfreiheit zu verwehren. Auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen sie sich – anderes als zum Gebet rufende Muezzine – nicht.

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